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Was bloß war der „Krautrock“ der Siebzigerjahre? Dies Etikett wurde international keineswegs nur spöttisch, sondern oft anerkennend verwendet. Doch die Propheten galten nicht viel im eigenen Land.

Das und seine Begeisterung für diese vergangenen Musikszenerie haben den Journalisten Christoph Dallach nicht ruhen lassen, das ebenso umstrittene wie ignorierte Phänomen in allen Fragen und Facetten darzustellen. Nicht nur eine schwierige Aufgabe, weil er selber Jahrgang 1964 ist, also zur Hoch-Zeit dieser „Subkultur“ noch Teenager war. Die Protagonisten waren sich häufig nicht einmal selber einig, ob sie mit „dazugehörten“ und was sie selber damit anfingen. Zudem eigneten sich die musikgeschichtlichen Ursprünge aus musique concrète und elektronischer Musik, internationalem Jazz, deutscher Volks- und Popmusik nicht gerade zum Vereintlichen für eine Erzählung oder journalistisches Berichten.

Doch Dallach nutzte einen handwerklich ebenso einfachen wie effektiven Kniff, um auf über fünfhundert Seiten die Bedeutung des „Krautrocks“ anschaulich zu machen: Er überlässt es dem Leser, wie seine sorgsame Montage von Interview-Teilen zu biographischen Episoden, den wechselreichen Band-Geschichten, Marketing-Überlegungen oder gesellschaftlichen Entwicklungen jeweils zu beurteilen und zusammenzufügen sind.

Alles andere wäre vermutlich unseriös gewesen. Denn jede stringente Anlyse oder geradlinigere Dokumentation könnte angesichts der bunten Szenerien insbesondere der Siebzigerjahre ins Leere laufen statt eine Lehre zu sein. Christoph Dallach ließ stattdessen mit Gespür und Kenntnis die wichtigsten Macher der Sechziger- bis zu den Achtzigern zu Wort kommen, sogar einige Randfiguren, deren Bedeutung für andere, vielleicht Bekanntere sich aber im Nu aus den Kompositionen der 33 Kapitel herauslesen lässt.

Es ist selten, dass eine pop-kulturelle Studie so spannend ist und so viele Erkenntnisse hervorbringt – ebenso wie das Genre „Krautrock“ Genialität und Irrsinn erzeugte, befruchtenden Dilettantismus neben spielerische Professionalität stellte – kurz: Fortschritt aus einer teils hinterwäldlerischen Attitüde schuf.

Insofern hat Christoph Dallach durch seine Blicke in die Vergangenheit auch eine Zukunft bundesrepublikanischer Pop-Musik ausgeleuchtet.

Von Rainer Jogschies

Christoph Dallach: Future Sounds.

Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten

Klappenbroschur, 511 Seiten, ISBN: 978-3-518-46598-1

suhrkamp taschenbuch 4598

Kann ein einzelnes Jahr für ein ganzes Jahrzehnt stehen? Ein Datum bloß? Oder nur eine Person?

Es ist wohl die Ausnahme. Aber sowas wirft, wenn es so ist, ein Spotlight auf die Regeln für unser Zeit- und gar das Geschichtsverständnis: Wir sind es schlicht nicht gewohnt, auf scheinbare Einzelheiten zu sehen.Stattdessen wird nur in „Dekaden“ gedacht, denen wir manchmal Namen gaben. Mitunter überlappten sogar solche dezimalen, unscharf benannten Phasen zu einer einigenden „Ära“, die vermeintlich eine Ausstrahlung auf nachfolgende Ereignisse hatte. Zumindest in der rückblickenden Deutung. Und sonst?

Philipp Sarasin hat sich „1977“ für seine Betrachtung gewählt, jenes einzigartige Jahr zwischen der „Reform-Ära“, die gemeinhin mit dem Kanzler Willy Brandt (SPD) assoziiert wird, und dem Beginn der „geistig-moralischen Wende“ des Kanzlers Helmut Kohl (CDU). Der scheinbare Wendepunkt „1977“ zwischen den von ihren Anhängern jeweils stilisierten Zeiträumen gerann in der landläufigen Journalisten-Lyrik zur „Bleiernen Zeit“ – so als sei es eine gleichrangige geschichtliche Periode wie die Bronze- oder Eisen-Zeit.

Ob und inwieweit diese Bezeichnung markant oder sinnvoll war, zeigte sich allerdings späteren Betrachtern weniger daran, ob die vermuteten Veränderungen gegenüber früheren oder späteren gesellschaftlichen Verhältnissen tatsächlich dieser Etikettierung zu- oder untergeordnet werden konnten. Sie spiegelte sich jedoch in den Biographien von Personen der Zeitgeschichte, die eben nicht jenes Jahr wie seine Handelnden prägte (wie beispielsweise den Mitgliedern der RAF oder des „Staatsapparates“ und des „Krisenkabinetts“ unter Helmut Schmidt), sondern bereits früher.

Vielmehr nimmt Philipp Sarasin, Professor für Neue Allgemeine Geschichte an der Universität Zürich, die Fäden von fünf in 1977 zufällig Verstorbenen auf: Ernst Bloch, Fannie Lou Hamer, Anaïs Nin, Jacques Prévert und Ludwig Erhard. Obwohl sie kaum Gemeinsamkeiten zu haben scheinen, strickt Sarasin „Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ daraus, so der Untertitel.

Plötzlich sind ausgerechnet dort Linien und Muster zu erkennen, wo sich die Gewissheiten der „spätkapitalistischen Gesellschaft“ gerade verflüchtigten.

Das ist – mit verblüffenden Zuordnungen und vertrauten Zitate aus der (Pop-)Kultur – ein spannendes Kunststück. Auf amüsante Weise erinnert es, was dem medialen Vergessen und der Zeitlosigkeit heutiger Protagonisten schon anheim gefallen zu sein schien.

Von Rainer Jogschies

Philipp Sarasin:1977.

Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Frankfurt/M. 2021

fester Einband, 502 Seiten, ISBN: 978-3-518-58763-8

(32 Euro; 27,99 eBook), suhrkamp-wissenschaft

Welche Herangehensweise prägt die Zukunft des Rückblicks? Wie auf (deutsche) Pop-Kultur sehen?

Der Pop-Pilosoph Thomas Hecken hat sich in der Zeitschrift POP im Oktober 2021 der „Erinnerungen an deutsche Rockmusik-Szenen“ angenommen, die gerade zuvor 2021 erschienen waren – scheinbar fast ein publizistischer Trend.

Er rezensierte darin nicht nur einen Sammelband mit Artikeln von Ingeborg Schober („Die Zukunft war gestern“) sowie eine Interview-Collage mit frühen Beteiligten der deutschen (Kraut-)Rockmusikszene („Future Sounds“ von Christoph Dallach) als auch den autobiografischen Essay „Waren wir mal die Gegen-Kultur oder gegen Kultur?“ von Rainer Jogschies, sondern wog Sinn und Nutzen dieser Übung in Vergangenheits-Spiegelungen sorgsam ab, indem er die Formen und die Horizonte der Inhalte fest im Blick behielt.

So gab er in seiner Buch-Kritik keinen Raum für die Verklärungen, wie sie hier und da in den besprochenen Texten gelegentlich aufflackerten.

Unter anderem kommt er in der Besprechung der posthum zusammengestellten Schober-Texte zu dem Schluß: „Mit ihrer Zusammenstellung und Wertung ist Schober zukunftsweisend.“

An Dallachs Zeitzeugen-Interviews stört ihn der „geringe Ertrag“ der Collage: „Unangenehm ist wiederum die oft zu lesende Betonung des Eigenständigen als Moment des ‚Deutschen‘, so als habe es in den USA, in England, in Frankreich etc. nicht auch vielfältigste Formen sog. ‚progressiver‘ und elektronischer Rockmusik gegeben. In der Summe penetrant ist auch die Betonung der massiven reaktionären Widerstände.“

Die ebenfalls bewusst subjektive Herangehensweise von Jogschies lobt er demgegenüber beispielsweise in dieser Folgerung: „Sein Erinnerungsbuch handelt davon, dass ihm die „progressive“ Popmusik, für die er sich Ende der 1960er Jahre und in den 1970er Jahren begeistert hatte, im Laufe der Jahrzehnte verloren geht. (…) Er macht dafür viele Gründe aus, die politischer und ökonomischer Natur sind. (…) Doch merkt man schnell, dass Jogschies´ Buch sich nicht darin erschöpft. Die Melancholie und der Widerwille, sich vereinnahmen zu lassen, lässt sich nicht vollständig durch die Kritik an den bestehenden Verhältnissen rationalisieren, sie liegt hier tiefer oder umfasst mehr, entstammt dem Temperament und auch dem Stilwillen des Autors, der eine eindrucksvolle Sprache findet für die Erinnerungen an seine Jugend und seine Jahrzehnte in Musikszenen und Journalismus. (…) Darum wird sein Rückblick stark vom Wissen und Erschrecken, dass es so geschieht, geprägt. Für den Leser ergibt das, vielleicht gegen die Absicht des Autors, einen doppelten Reiz: die vielen kleinen, bereits für sich interessanten, hauptsächlich Hamburger Begebenheiten bekommen eine große Einheitlichkeit und Kraft, die aus dem Stil der Erinnerung erwächst.“

Thomas Hecken: Erinnerungen an deutsche Rockmusik-Szenen

– Drei Bücher aus dem Jahr 2021,

in: POP-Zeitschrift am 18.10.2021 (transcript-Verlag, Bielefeld,

https://pop-zeitschrift.de/2021/10/18/erinnerungen-an-deutsche-rockmusik-szenenautorvon-thomas-hecken-autordatum18-10-2021/)

Besprochene Bücher:

Rainer Jogschies, „Waren wir mal die Gegen-Kultur oder gegen Kultur?“, Hamburg 2021.

Christoph Dallach, „Future Sounds. Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten“, Berlin 2021.

Ingeborg Schober, „Die Zukunft war gestern. Essays, Gespräche und Reportagen“, hg. v. Gabriele Werth, Meine 2021

Einst sang Bo Diddley „You can´t judge a book by looking at the cover!“ (1962). Die Rolling Stones waren offenbar derselben Meinung. Auch die Yardbirds. Und die Monkees. Und auch The Clash coverten den Song von Willie Dixon.
Der allerdings bloß eine Volks-„Weisheit“ coverte und dabei konterkarierte.

Wie also sollte man denn ein Buch beurteilen, dessen Cover in flächigen, kantigen Formen eine braun-langhaarige Sie, einen Er oder irgendwie diverses Bunt zeigt? Allerdings mit verkniffenen, aber reizend roten Lippen? Gleich oberhalb der Nasenlöcher verdeckt etwas Kantiges die Augen und überhaupt den Rest. Es könnte ein Brett vorm Kopf sein, ist aber schwarz und glatt. Womöglich eine 3-D- oder VR-Brille?Da kann es nicht weiter verwundern, dass Bo Diddley oder die Rolling Stones darin nicht vorkommen.
Denn auf 460 Seiten folgen noch mehr Komplexitäten, die sich kaum der Frage stellen, wann eigentlich jene „Vergangenheit“ endete, dass sie fortan in Museen „ausgestellt“ wurde? Und wann eigentlich jene Gegenwart, beispielsweise mit der Pop-Kultur, begann, die anscheinend so wenig museumsreif ist, dass auch künftig darüber zu schweigen ist?
Von „der Zukunft“ als Thema der Museen ganz zu schweigen – wenn diese denn überhaupt von lauter Schnickschnack wie Gamification und Digitalisierung selber noch eine Zukunft haben.
Vielleicht ist vermeintlich Vergangenes für „innovationsorientierte“ Menschen ebenso wenig wichtig wie das, was aus den riesigen Fundi nie hervorgeholt wird?

Die vermeintlich aktuellen Tagesprobleme sind jedenfalls für Nicht-Museumsbesucher immer noch ungelöste Jahrhundertsorgen, offenbar aber nicht für „Kulturmanager“.
Immerhin gibt es weltweit real eine Renaissance der Rituale im Krieg, vom Völkermord bis zu systematisierten Vergewaltigungen, begleitet allerdings von digitaler Waffenlenkung und Echtzeit-Wahrheitsfälschung vom Bots.
Wie können Museen, selbst wenn sie wie das „Imperial War Museum“ in London eine fest umrissene und erschreckend aktuelle Aufgabe haben, überhaupt noch mit der globalen Wissenszerstörung und dem fortdauernden Verlust an Zivilisation umgehen? Kann der Holocaust museal als Event ausgestellt oder mit „virtueller Realität“ (VR) animiert werden?
Warum gibt es nach der geheuchelten „Zeitenwende“ von massenmörderischen Diktatur hin zu enthemmten Despoten und „Oligarchen“ (garniert von früheren Pazifisten, die nach „schweren Waffen“ rufen und Ostermarschierer denunzieren) kein Museum der Demokratie?

Dem Songwriter Willy Dixon ging es natürlich in seinem Blues nicht um Vordergründiges (wie ein Buch-Cover), sondern schlicht darum, ganz anders beurteilt zu werden als jener in Deutschland sprichwörtliche „Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt“ – wer nur den Stamm anschaut, wird kaum etwas über den Apfel erfahren. Dixon versammelte eine Litanei von ärgerlichen Gewissheiten, die kaum je ernst genommen wurden: Eine Frau kann nicht nach ihrem Mann beurteilt werden, eine Tochter nicht nach der Mutter…
Dixon war eben kein organisationaler Dynamiker, sondern nach dem ersten Weltkrieg mit Armut, Rassismus, Sexismus und Ignoranz aufgewachsen. Er stellte sich selber oft sarkastisch aus:
„Oh can’t you see
Oh you misjudge me
I look like a farmer, but
I’m a lover.“

Von Rainer Jogschies

Henning Mohr / Diana Modarressi-Tehrani (Hg.):

Museen der Zukunft

– Trends und Herausforderungen eines innovationsorientierten Kulturmanagements,

transkript-Verlag, Bielfeld 2021 (462 Seiten, ISBN: 978-3-8376-4896-6)

Die Kultur und die Politik. Die Kunst und die Demokratie. Tja.


Es war einmal … eine Zeit, in der Kulturinstitutionen nach betriebswirtschaftlicher Rentabilität gefragt wurden. Rechnet sich Kultur eventuell sogar volkswirtschaftlich?

In Zeiten knapper Kassen der Öffentlichen Hand wurde die Finanzierung von Staatsoper, Theatern und Museen einer ungewohnten Prüfung unterzogen.
Die Einbettung von Kunst und Kultur in ökonomische Rentabilität und politische Steuerung war nie einfach – und ist trotz eines Berges kulturstatistischer Daten, die bisher erhoben wurden, und „neuem Steuerungsmodell“ und Governance-Ansätzen weiterhin ein mühsames Unterfangen.

Jetzt hat die Kulturpolitische Gesellschaft den großen Wurf gewagt, Kunst und Kultur in Beziehung zu setzen zum Erhalt und zur Entwicklung unserer Demokratie.

Am 9. und 10. Juni 2022 fand der schon für letztes Jahr geplante Bundeskongress in Berlin statt. Die Sterne hätten deutlich besser stehen können, hat man doch – mit einem zwinkernden Marketingauge – den Buchtitel des erhofften künftigen Kulturstaatsministers Carsten Brosda zum Kongress-Titel gemacht: „Die Kunst der Demokratie. Kulturpolitik als Demokratiepolitik“ (https://kunstderdemokratie.de/).

Es kam alles anders in den Koalitionsverhandlungen – und so kam es zu zwei „Keynotes“: es sprach die „tatsächliche“ Beauftragte für Kultur und Medien, Claudia Roth, im Saal – und es sprach der per Video „zugeschaltete“ Carsten Brosda als Hamburger Kultursenator und Präsident des Deutschen Bühnenvereins.

Beide Redner:innen haben das Publikum fragend zurück gelassen: was wollt ihr denn anpacken, welche Richtung einschlagen? Haben wir kulturpolitische Standpunkte zur (Kunst der) Demokratie gehört? Nein, haben wir nicht.

Aber gemach: das wichtigste Element solcher Tagungen – es war der 11. Bundeskongress der KuPoGe – bleiben die persönliche Begegnung und der informative Austausch der Kulturpraktiker untereinander. Ausgebucht war das Klassentreffen – also viel Gesprächsstoff nach der langen Pandemie-Abstinenz.

Das bleibt als Pluspunkt hängen.

Ein kritischer Blick auf die Panels und Foren des Kongresses ist in diesem Jahr allerdings besonders wichtig, weil sich die KuPoGe stets mit der Bearbeitung von Trends und Buzzwords zu positionieren versucht. Wohin geht die KuPoGe?

Seit der „Verjüngung“ von Vorstand und Geschäftsführung bzw. Leitung des Instituts für Kulturpolitik stehen die Themen Transformation, Digitalisierung und Nachhaltigkeit ganz oben auf der Agenda der KuPoGe. Für und durch die Kulturinstitutionen.

Und aktuell geht es um die „Demokratie in der Krise“, die „Kultur als Austragungsort politischer Konflikte“ – so zwei Veranstaltungstitel des diesjährigen Bundeskongresses, die im Wettbewerb standen mit Themen der Kunstfreiheit und einem Versuch, die „Kultureinrichtungen als Kraftzentren der Demokratie“ zu diskutieren.

 „Kultur ist Lebenselixier“ wiederholt auch Claudia Roth als ewiges Mantra der Kulturpolitiker. Die Teilnehmer:innen aus Kulturverwaltung und zivilgesellschaftlichen Projekten fragen sich allerdings, wie sie dies im Alltag umsetzen sollen – die Konkretisierung bleibt offen. In Konzept und Finanzierung. Und vor allem wird bei all dem die Bürgerin, der Bürger übersehen. Citoyen, Bourgeois, l’Homme: Staatsbürger, Wirtschaftsbürger, Mensch.

Wo taucht sie auf, die Alltagskultur? Wo die Jugendkultur? Die Produktionsstätten oder auch Brutstätten unserer Kultur liegen schon lange außerhalb der Musentempel. Hochkultur und Soziokultur stehen immer noch auf unterschiedlichen Stufen der Kulturförderung – seit … über 50 Jahren.

So genannte Best-Practice-Beispiele werden auf den Kongressen zwar immer präsentiert. Wichtige Mutmacher, die wertvolle Tipps mitgeben. Sie bleiben allerdings unvermittelt im ewigen Raum der „Lebenselixiere“ stehen.

Wenn sich Politik „anschlussfähig für die Kultur“ machen möchte, wie es Carsten Brosda mit Olaf Scholz im Schulterschluss vor der Bundestagswahl in der ZEIT auf einer ganzen Seite ausführte, dann kann man – dann sollte die KuPoGe – die Politiker deutlich auffordern, einem kulturellen Leitbild in allen Politikfeldern zu folgen. Mindestens aber müsste die Kulturpolitik zu einem gleich relevanten Politikfeld werden wie die Wirtschaftspolitik.
 
„Viel schon ist getan – mehr noch bleibt zu tun, sprach der Wasserhahn zu dem Wasserhuhn.“ Dichtete Robert Gernhardt einst. Stimmt noch heute.

Von Jens Klopp

In den vergangenen Jahren erschienen so einige Jahrzehnt-Bilanzen.

Siehe beispielsweise die Besprechungen weiter oben. Verschiedenste Fachdisziplinen widmeten sich gesonderten (scheinbar einmaligen) vergangenen Entwicklungen. Manche trugen womöglich sogar beschreibende Namen für ihren „Gegenstand“, die ihnen – vor allen anderen – nicht gerade prosaisch veranlagte Historiker gaben.

Doch bei genauer Betrachtung betrafen sie nichts Genaues. Was waren denn die „Aufbaujahre“ der Fünfziger oder die „APO-Jahre“ der Sechziger? Und waren die mit dem Dekadenwechsel denn „zu Ende“?

Doch wieso ein scheinbar unpräzises „ca.“ ausgerechnet vor einer Jahrzehntbetrachtung, zudem ab dem Jahr 1972, also schon nach einem Jahrzehnt-„Beginn“? So der knappe Titel dieses ungewöhnlichem Readers: „ca. 1972“ .

Wieso bloß war dies ein bedeutsames Anker-Jahr für einen heutigen Kunstgeschichtler wie Tom Holert, der damals gerade mal zehn Jahre alt war?

Tom Holert nennt dafür selber nur wenige Topografiemarken. Sie prägten gleichwohl offenbar sein späteres Leben: 1972 „war der historische Horizont der Moderne dabei, seine orientierende Funktion zu verlieren. Die Leuchtfeuer des Fortschritts verblassten, politische Projekte kamen an ihr Ende. Gleichzeitig betraten neue, zuvor ausgegrenzte Akteure mit ihren Identitäten, Organisationsformen und Politikstilen die Bildfläche. Alternative Kartografien einer ‚dritten’ und ‚vierten’ Welt wurden sichtbar. Das Schicksal der ‚Umwelt’ und des Planeten rückte auf die Agenda.“

Das kann der heutige Rezensent aus vollem Herzen bekräftigen – der „damals“ immerhin schon 18 wurde!

Und dennoch kaum eine Ahnung davon hatte, was auf ihn zukam oder ausblieb. Nach einer Gesetzesnovelle war ich erstmals so „volljährig“, den Bundestag mit dem Gerade-Noch-Kanzler Willy Brandt (SPD) zu wählen – nachdem der blasse bis blasierte „Oppositionsführer“ Rainer Barzel (CDU) ihm (wegen dessen Frieden suchender „Ostpolitik“) im Parlament das „Misstrauen“ ausgesprochen hatte – „außerparlamentarisch“ begleitet von Nazi-Hetzparolen zum „Deserteur“ Brandt, der „feige“ unter diesem nom de guerre (so sein späterer Nachkriegsname) während des Zweiten Weltkriegs in Norwegen „abgetaucht“ war und Widerstand organisierte statt wie ein „guter Deutscher“ vor Stalingrad, in Jugoslawien oder in der Normandie für Verbrechen zu „kämpfen“.

Heute könnte ich aufs „Wählen“ durchaus verzichten, wohl auch, weil der Überaus-Sauerländer Friedrich Merz gegen Doppel-Wumms-Kanzler Olaf Scholz (SPD?) dieselbe Provinz-Masche des „Misstrauens“ zu stricken versucht wie in den Siebzigern seine Parteigenossen.

Auf das andere könnte ich nicht verzichten, das Holert wörtlich farbig und facettenreich beschreibt: Er erzählt nämlich nicht linear entlang der mehr oder weniger „historischen“ Ereignisse in den Siebziger Jahren, sondern breitet reichlich Material jener Zeit aus: Fotografien, Film-Hinweise, Buch-Zitate, Zeitschriften-Ausrisse. Nicht um im klassischen Sinne zu dokumentieren, sondern wie ein Kurator bildender Kunst (der er auch sein Leben lang war) eine scheinbar vergangene, aber durchaus noch prägende Konstellation zu rekonstruieren: Als ein unsichtbares Gefüge kultureller, intellektueller und ästhetischer Zusammenkünfte oder gesellschaftlicher Missverständnisse.

Da mögen die üblichen Geschichtsbuchverwalter wegen solcher „Methode“ die Nase über einen Eklektizismus rümpfen.

Und wirklich. Es stinkt zum Himmel. Denn Tom Holert hat auf 544 Seiten vor allem einen üppigen Band voller Faksimiles und Fotos vorgelegt, deren Geruch an Siebdrucke der Siebziger oder die handgenudelten Wachs-Matritzen-Texte der damaligen Universitätsseminare beißend erinnert. Das tut gut in dieser übertrainiert vergesslichen und überaus selbstvergessenen Zeit.

Holerts Essay schlägt mit seinen genauen Beobachtungen, manchmal nur mit Assoziationen und Hinweisen, die mit Zitaten aus der Circa-Zeit unterfüttert sind, unberechenbare Funken. Sie weisen weit über das üblicherweise erwünschte Maß bei einer Arrondierung hinaus.

Diese eigensinnige pop-kulturelle und philosophische Qualität lässt den Autoren zwar in den Hintergrund treten, obwohl sein radikales Spiel mit Wort und Bild durchaus von ihm erkenntnistheoretisch vertieft hätte werden können. Doch wozu?

Zum Glück und dank eines über Jahrzehnte erprobten Geschicks des Autors bedurfte es dessen wegen der Dichte seiner Komposition gar nicht.

Gleich nach dem Erscheinen erhielt der Band „ca. 1972“ mit Recht den „Sachbuchpreis“ der Leipziger Buchmesse 2024.

Die Jury urteilte: „Aus den Blickwinkeln heraus, die dieses Buch einnimmt, erscheint ‚ca. 1972’ daher auch als ein Raum aktivistischer Konjunkturen und ästhetischer Energien, der Entgrenzung und Rekonfiguration, ungeeignet, arretiert und vereindeutigt zu werden. Dieser Befund kann frustrieren, weil er keine Lektion, kein kompaktes Wissen bereithält.“

Na bitte und bitte sehr!

Von Rainer Jogschies

Tom Holert:

ca. 1972. Gewalt – Umwelt – Identität – Methode.

Spector Books, Leipzig 2024.

ISBN 9783959055710, broschiert, 544 Seiten, 36,00 EUR.

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