Ist es Zeit für ein (digitales) Archiv „deutscher“ Popmusik?
Nach dem inzwischen international legendären „Krautrock“ der Siebzigerjahre, nach der international bestaunten und gefeierten „neuen deutsche Welle“ der Achtzigerjahre, nach dem die Welt umrasenden „Techno“ der Neunzigerjahre und der „DJ Culture“ der Nullerjahre – was kommt ab 2020/1? Ein Museum für Amon Düül in Schwabing, für Udo Lindenberg in Gronau, für Ideal in Kreuzberg, für Scooter neben Legoland und für Ulf Poschardt im Welt-Archiv?
Fünf Jahrzehnte umfassten die Pop-Dekadentagungen: Vom Beginn der „Jugend-Subkultur“ 1969 mit ihren „Jugendzentrums-„ und späteren „Musiker-Initiativen“ im Anschluss an die „Studenten-Revolte“ bis hin zum professionalisierten, aber ratlosen Ende der staatlichen und privaten Pop-Akademien und „Bachelor“-Mucker 2009.
Über all diese Jahrzehnte der Pop-Dekadentagungen mit Experten und Musiker*innen – von Würzburg über Düsseldorf, Mannheim bis Hamburg – stand skurrilerweise die internationale „Pop-Kultur“, die Deutschland seit den Sechzigerjahren so stark beeinflusste, außerhalb der scheinbar aktuelleren Diskussionen. Praktischerweise wurden die eigenen, auch sozialen oder im doppelten Sinne provinziellen Befindlichkeiten im Vordergrund: Wie lebe ich von und mit Rock- oder Pop-Musik?
Dabei wäre durchaus auch die internationale Bedeutung der deutschen „Popmusik-Kultur“ zu befragen gewesen, zumal der Stellenwert der multinationalen Alltagskultur, die bereits seit den Siebzigerjahren zugleich ein bedeutsamer Wirtschafts- und Steueraufkommensfaktor war, mit Blick auf die kulturpolitischen Fragestellungen jedoch verschämt ausgeblendet worden war.
Anders als im eigenen Land wurden „deutsche“ Pop-Produkte außerhalb oft ganz anders wahrgenommen:
• So wird beispielsweise in Großbritannien die Ära der deutschen Siebzigerjahre-Bands (beispielsweise Can, Tangerine Dream, Amon Düül, Kraftwerk) trotz des ironischen Etiketts „Krautrock“ geradezu ikonisch verehrt.
• Die „neue deutsche Welle“ der Achtziger fand in Japan (Alphaville aus Münster) und in den USA Anhänger (beispielsweise Nena aus Berlin). Hits wie „DaDaDa“ (Trio aus Großenkneten) wurden sogar in Südamerika, insbesondere Brasilien, bis heute begeistert gecovert.
• Die Neunzigerjahre und das neue Jahrtausend überraschten mit deutschen „Weltmusik“-Produktionen, beispielsweise den Bulgarischen Stimmen (die in New Yorker Diskotheken zum Kult wurden, obwohl in Bremen aufgenommen) und den Dissidenten (die in Nordafrika eine zeitlang die Charts anführten und aus München kommen).
• Inzwischen werden sogar skandinavische Acts wie die Jazz-Pop-Sängerin Kari Bremnes und britische Künstler wie die ehemalige Hit-Formation The Sparks von Deutschland aus (beide wurden seit langem in Hamburg-Harburg, einem Gründungsort einer der ersten „Musikerinitiaiven“ gemanagt) vertrieben (bis vor kurzem auch Adele) beziehungsweise sogar produziert.
Gleichwohl ist diese erfolgreiche „deutsche“ (???) Alltagskultur dem Vergessen preisgegeben.
Zwar gibt es erste, private und kleinteilige Archivierungsbemühungen wie das Archiv der Jugendkulturen in Berlin oder gar ambitionierte „Museumsinitiativen“ von Laien wie in Gronau, einer Gedenkstätte zu Lebzeiten für Udo Lindenberg. Hier wird mit „Dokumenten“ und Artefakten gearbeitet, was dem Genre und der Aufgabenstellung nur im Ansatz gerecht wird. Szenen organisierten private Archive wie in Köln und Mannheim.
Das Wissen um die Entwicklung und Bedeutung von deutscher Rock- und Popkultur ist jedoch bislang weder systematisiert, noch katalogisiert oder gar der (internationalen) Wissenschaft erschlossen, was für eine künftige Entwicklung dieses Kultur- und Wirtschaftszweiges unverantwortbar ist. So lagern (und verrotten) in den „Schallarchiven“ der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Ton- und Bilddokumente nahezu aller bedeutsamen („deutschen“) Rockproduktionen, die einer restaurierenden oder bewahrenden Bearbeitung bedürften (beispielsweise durch Digitalisierung) und die sogar einer weiteren Verwertung im Sinne der Urheber erschlossen werden könnten.
Im Unterschied dazu sammelt die US-amerikanische Library of Congress systematisch „popular music“ aller Epochen zur freien Verfügung. Sie benennt jeweils den „Song of the Day“ und veranstaltet Konzerte mit bedeutenden Musikern.
Die Bundesrepublik Deutschland hat mit den gerade erweiterten Nationalbibliotheken in Leipzig und Frankfurt/Main sowie dem Bundesfilmarchiv in Berlin vorbildliche Einrichtungen kultureller Pflege geschaffen und so die Sicherung wissenschaftlich (und wirtschaftlich) nutzbarer Quellen geleistet, die zudem die Rechtssituation der Verlage stützt. Für Neuveröffentlichungen gilt eine materiale Belegexemplar-Abgabepflicht. Die Bundesregierung baut derzeit mit der Deutschen Digitalen Bibliothek eine staatliche, einmalige Einrichtung zur allgemeinen kulturellen Nutzung auf, die jedoch den Bestand der populären Kultur nur in Teilen berücksichtigen wird, obgleich hier eine kostengünstige nicht-materiale Archivierung denkbar und sinnvoll wäre.
Für den Bereich der deutschen Popmusik-Kultur fehlt eine vergleichbare Institution, die dem internationalen Ansehen und der gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Bedeutung der Szenen gerecht wird und die zentraler und dienstleistender Anlaufpunkt für die (internationale) wissenschaftliche Rezeption und für die produzierende Wirtschaft ist.
Es könnte nicht nur ein Gegenstück zu kommenden, für das Urheberrecht problematischen Google– oder YouTube-Angeboten sein, sondern die Urheberrechte darüber hinaus produktiv nutzen, beispielsweise durch eine erstmals durch eine digitale Archiv-Gesamtschau mögliche künstlerische und wirtschaftliche Auswertung der Kreativitätspotentiale sowie auch als digitales und rechteschützendes Rechercheinstrument durch Verlinkung mit Hersteller- und speziellen, teils ausländischen Fan-Webseiten beispielsweise zu den Einstürzenden Neubauten, den Krupps oder Kraftwerk.
Eine sehr persönliche Kartografierung in kleiner Runde zur „deutschen“ Popkultur, ihrer kulturellen Bilanz und kulturpolitischen Perspektive, zu Gast im Hamburger Institut für Kultur- und Medienmanagement (KMM), mit Impuls-Vorträgen, Kommentaren und Kritiken von Prof. Dr. Thomas Hecken, Prof. Dr. Christoph Jacke, Gabriele Rohmann (Archiv der Jugendkulturen), Hans Nieswandt (Popstudiengang der Folkwang-Hochschule) und Detlef Diedrichsen (Haus der Kulturen der Welt).
Ist es Zeit für ein (digitales) Archiv „deutscher“ Popmusik?